Eingang 95. Geburtstag · G. Kegel O. Sandrock C. Scholl F. Schwind Tschiporikov - End
 
 

Inhalt

  1. Schreiben zum 95. Geburtstag
  2. Erinnerungen

 

von Borislav Tschiporikov zum 95. Geburtstag

Las Vegas, 24. April 2004
 
Sehr geehrter, lieber Herr Professor Beitzke,
 
Wie gern hätte ich Ihnen an einem so feierlichen Tag persönlich gratuliert. Aber ich bin leider so weit von Ihnen, und vielleicht ist es gut so, denn dieser Tag und diese Stunden gehören nur Ihnen und Ihren nächsten Liebsten. So soll mein Schreiben nur respektvoll meine Glückwünsche zum 95sten Geburtstag überbringen und Ihnen noch einmal meine stete Verehrung und Hochachtung bekunden.
 
Sie sind in dem Alter, in dem man beginnt zu klagen, weil man einfach alt geworden ist. Das merke ich schon bei mir, obwohl ich 18 Jahre jünger bin, und ich erinnere mich aus unseren Telefongesprächen dass Sie - gewöhnt Ansprüche an sich zu stellen - klagten, oder eher Zustände erkannten. Es fing damit an, dass Sie wissenschaftlich nichts mehr leisten würden, als ob das Geleistete nicht gross genug wäre, Ihr Buch einem Kollegen übergeben hätten, Autofahren nicht mehr dürfen, auf einiges verzichten müssen, einige gesundheitliche Beschwerden hätten. So geht es glaube ich bei allen Menschen, die ein höheres Alter erreichen durften.
 
Ich habe vor vielen Jahren hier, in Mexiko, den früheren Olympiateilnehmer und Champion der Balkanen im Turnen Vassil Lützkanov persönlich kennengelernt. Er ist mir ein Beispiel, wenn ich altersbedingt beginne nachdenklicher zu werden oder ja zu klagen, und ich möchte in diesem Zusammenhang eine Erinnerung mit Ihnen teilen. Lützkanov war als Athlet einer der ganz grossen meines Landes und kam so auch als Trainer nach Mexiko. Vor einigen Jahren kam er mit seiner Frau als Gast in mein Hotel und ich fand ihn eines Nachmittags im Garten des Hotel sitzen, setzte mich zu ihn und hörte ihm zu, als er zu seinem Stock zeigend begann zu klagen. Ich sollte sehen was aus ihm geworden sei, von ihm, der der Balkanchampion gewesen war und jetzt auf Hilfe angewiesen sei und nicht mehr ohne Stock laufen könne. Es ging so eine Weile und dann begann er zu weinen.
 
Ich liess ihn ausreden und fing dann an von den Menschen zu reden, die auch Athleten und junger gewesen aber nicht mehr da waren, von den vielen die nie Athleten waren, von den vielen seiner Freunden und Kollegen, die nicht mehr lebten, von den Millionen Menschen, die sein Alter - von Erfolgen ganz zu schweigen - nie erreichen würden. Lützkanov wurde nachdenklicher, lächelte und kam einen Tag später bei seiner Abreise zu mir, um mir zu sagen, dass ich wirklich sehr recht gehabt hätte, nur hätte er nicht genug darüber nachgedacht. Da lachte Lützkanov und ich auch mit ihm.
 
Ihnen, sehr geehrter, lieber Herr Professor Beitzke, wünsche ich zu Ihrem Geburtstag viel Glück und noch viele, viele Jahre ohne Beschwerden und ohne Klagen. Und wenn es einmal nicht ganz ohne gehen sollte, denken Sie bitte an das Beispiel des Grossen der Balkanen.
 
Ihr stets sehr ergebener
Borislav Tschiporikov

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Borislav Tschiporikov erinnert sich...

Ihre Idee mit der eigenen Seite für Ihren Vater fand ich toll. Und was die Anekdote/Geschichte betrifft, ich habe eine Erinnerung, die länger ist und daher schwierig einzusetzen, aber ich schicke sie Ihnen und hoffe Ihr Vater würde sich freuen, sie zu lesen. Es ist dies ein Ausschnitt aus meinen Erinnerungen, die ich vor einiger Zeit angefangen habe, aufzuschreiben. Ich habe ein so interessantes Leben gehabt, dass ich mich der Versuchung nicht entziehen konnte, es aufzuschreiben. Kein Buch, keine Memoiren, nur Aufzeichnungen für mich und meine Söhne vielleicht.
      In diesen Aufzeichnungen finde ich nun einige Zeilen, die ich über meinen Beginn in Göttingen 1957/1958 und Ihren Vater geschrieben hatte. Ich bin ziemlich sicher, dass sich alles damals so abgespielt hat, obwohl nach 43 Jahren Gedächtnisfehler möglich sind. Aber nicht viele, wenn man sich an Persönlichkeiten, wie Ihren Vater erinnert.


Ankunft in Göttingen 1957/1958:

Professor Dr. Günther Beitzke

Als nächstes muss man nun einen Professor finden, der bereit wäre, mein Doktorvater zu werden. Der Leiter des Auslandsamtes, Professor Dr. Schutze nimmt das gleich in Angriff, man merkt dass er bemüht ist, mir zu helfen. Er führt in meiner Anwesenheit mehrere Telefonate mit anderen Professoren und hat nach einiger Zeit Erfolg bei Professor Dr.Günther Beitzke. Ich höre wie er Professor Dr. Beitzke bittet, ein Kolloquium mit mir durchzuführen und erschrecke beinah. Ich stelle mir darunter eine Prüfung in einem Recht vor, von dem ich wenig kenne. Ich erfahre zwar, dass Professor Dr. Beitzke Familienrecht liest, aber das beruhigt mich gar nicht, denn auch vom deutschen Familienrecht kenne ich nichts und kann nicht wissen, inwieweit mir meine Kenntnisse des bulgarischen Familienrechts helfen können. Kann ich die Institutionen des neuen bulgarischen Familienrechts auf das Recht der Bundesrepublik übertragen? Genügen die Vorlesungen, die ich in Bulgarien beim Professor Mevorach in Familienrecht gehört hatte? Und die, die ich im Winter überhaupt nicht gehört hatte, weil ich mehr beim Skifahren als beim Studieren war? Nein, ich fühle mich nicht wohl dabei.
      Am nächsten Tag stehe ich um 13:00 Uhr vor dem Büro von Professor Dr. Beitzke im Aulagebäude und bemühe mich mit meiner Aufregung fertig zu werden. Das gelingt mir aber kaum, die bevorstehende Prüfung lässt bei mir so viele Fragen aufkommen. Wie ist er? Wie und was wird er prüfen? Familienrecht oder ganz allgemein Zivilrecht? Oder vielleicht Römisches Recht? Und das alles in deutscher Sprache - ich komme mir schlimmer vor als bei einer der vielen Prüfungen, die ich während meines Studiums ablegen musste. Sie waren nicht so entscheidend, von ihnen hing nicht mein weiteres Studium ab, ich konnte im schlimmsten Fall eine Prüfung sogar wiederholen. Aber hier?
      Mit bangem Herzen klopfe ich an der Tür und warte eine Weile. Es meldet sich niemand, die Tür ist geschlossen, niemand ist da. Ich bleibe, um zu warten. Es dauert nicht lange und von aussen kommt ein Mann, den ich im Alter von etwa 45 Jahren schätze. Er ist kleiner als ich von Gestalt, schmal und etwas blass im Gesicht. Der Mann ist gut gekleidet und wirkt in seinem, dunkelgrauen Anzug sehr vornehm. Er kommt direkt auf mich zu, lächelt freundlich, reicht mir die Hand und stellt sich vor:
"Beitzke. - Sie wollen zu mir, Sie kommen von Professor Schutze, nicht wahr?"
Mir stockt der Atem. Während er die Tür aufsperrt, beobachte ich ihn und versuche krampfhaft mir ein Bild von ihm zu machen. Mit einer einladenden Bewegung zeigt er zur offenen Tür und sagt:
"Kommen Sie herein, Herr Kollege."
      Wir betreten sein Arbeitszimmer, er bietet mir Platz und setzt sich mir gegenüber. Jetzt erwarte ich gespannt den Beginn der Prüfung, aber Professor Dr. Beitzke hat es nicht eilig. Er beginnt eine zuerst kurz auf mich bezogene Unterhaltung und geht dann auf ganz allgemeine Themen über. So erfahre ich unter anderem, dass er die Bundesrepublik Deutschland bei der ILO - der Internationalen Arbeitsorganisation - vertritt und oft in Genf sein muss. Als er in diesem Zusammenhang von mir hört, dass ich auch Französisch spreche, setzt er die Unterredung auf Französisch fort und überrascht mich mit seiner guten französischen Sprache, der ich standzuhalten bemüht bin. Sein Kompliment, dass ich für den diplomatischen Dienst geeignet wäre und mein Land bei internationalen Institutionen vertreten könnte, erfreut mich zwar, hilft mir aber nicht viel aus der Verlegenheit, denn ich habe nur die Prüfung im Kopf, die jetzt kommen soll. Dann erkundigt sich Professor Dr. Beitzke über den Stand der Rechtswissenschaft in Bulgarien und hört mir sehr aufmerksam zu. Wir unterhalten uns speziell über die Änderungen im Familienrecht dort, das Gespräch gestaltet sich locker und sehr angenehm. So vergeht mehr als eine halbe Stunde und Professor Beitzke nimmt sich immer noch Zeit, beginnt immer noch nicht mit dem Kolloquium. Dann aber höre ich ihn plötzlich sagen:
"Herr Kollege, ich bin Ihnen dankbar, denn ich konnte von Ihnen sehr viel über die Rechtsentwicklung in Ihrem Land und das neue bulgarische Recht erfahren. Würden Sie bitte morgen um die gleiche Zeit kommen und Ihren Schein abholen."

Das Gespräch ist beendet, die Überraschung perfekt, und ich bemühe mich nun mir nicht anmerken zu lassen, wie gross der Stein ist, der mir vom Herzen gefallen ist. Professor Dr. Beitzke verabschiedet sich sehr freundlich von mir und lässt mich überrascht und erfreut daran denken, dass das wohl ein eigenartiges Kolloquium gewesen war, und ich in Wirklichkeit mehr von einem Diplomaten als von einem Rechtswissenschaftler empfangen worden war.
      So wird Professor Dr. Günther Beitzke mein Doktorvater. Wir vereinbaren, dass ich nach meinem Umzug nach Göttingen ihn aufsuchen werde, um über mein weiteres Studium zu sprechen. Als ich dann im Januar 1958 von Frankfurt nach Göttingen umziehe, melde ich mich als erstes in der Sprechstunde von Professor Dr. Beitzke. Auch jetzt ist sein Empfang ausserordentlich höflich und herzlich. In einem kurzen Gespräch gehen wir die möglichen Themen für meine Doktorarbeit durch. Sein Lieblingsthema ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Familienrecht und wir einigen uns auf eine rechtsvergleichende Studie dieses Themas im Recht der europäischen Volksdemokratien und der Bundesrepublik Deutschland. So beginnt ein wunderbares Verhältnis zwischen Doktorvater und Doktorand, das auch nach der Promotion jahrzehntelang erhalten bleiben wird. Ich arbeite viel allein und bemühe mich, die Hilfe von Professor Dr. Beitzke nicht unnötig in Anspruch zu nehmen. Aber jedes Mal, wenn ich sie brauche und ihn frage, ob er Zeit für mich hätte, bekomme ich die gleiche nette Antwort:
"Für Sie habe ich immer Zeit."

Leider verlässt Prof. Dr. Beitzke nach einem Jahr Göttingen und geht nach Bonn als Leiter des Instituts für Internationales Privatrecht. Ich werde von Professor Dr. Gamillscheg übernommen, mit dem ich keinen guten Kontakt habe und seine Hilfe kein einziges Mal in Anspruch nehme. Das wirkt sich nicht sehr positiv für mich aus. Als ich ihm dann meine Arbeit vorlege zeigen sich Differenzen, die dazu führen, dass ich Teile der Arbeit wie die Kritik am früheren Kirchenrecht oder mein Vorwort streichen bzw. ändern muss. Wir haben auch verschiedene Auffassungen über Begriffe wie DDR und SBZ. (Link: DDR im WWW). Ich weigere mich hier, etwas zu ändern und den letzten zu gebrauchen, obwohl er sinngemäss der zutreffendere wäre.
      Vor Abschluss meiner Arbeit treffe ich Professor Dr. Beitzke einmal in Genf, wo er sich dienstlich befindet. Ich werde von ihm zu einem Mittagessen im Hotel Intercontinental eingeladen, bei dem er sich erkundigt, wie es mir bei der Arbeit in Göttingen geht. Er behält sich auch vor, meine Arbeit mit zu begutachten und ist später in seiner Bewertung grosszügiger als mein Adoptiv-Doktorvater.
      Die Verbindung mit Professor Dr. Beitzke wird auch nach meiner Promotion erhalten bleiben. Im Sommer danach werde ich von ihm zu einem Treffen mit früheren Schülern von ihm in seinem Haus in Bad Godesberg eingeladen. So lerne ich auch seine Familie kennen. Er und seine Gattin sind sehr feine Gastgeber.
      Professor Dr. Beitzke bemüht sich auch eine Stelle für mich bei der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel zu bekommen. Aber zu diesem Zeitpunkt bin ich schon voll mit meiner Skischule beschäftigt und habe bereits meine Stelle als wissenschaftlicher Hilfsassistent im Institut für Völkerrecht von Professor Dr. Georg Erler gekündigt und somit die juristische Laufbahn aufgegeben. Vielleicht ist das ein fataler Fehler, ich werde später sehr oft darüber nachdenken, ohne jedoch zu einem Urteil kommen zu können. Professor Dr. Beitzke sieht das anders. In einer Postkarte schreibt er mir etwas unzufrieden "ich hätte an Ihrer Stelle nicht so leicht eine vielversprechende Karriere aufgegeben, um als Skilehrer am Hang zu stehen". Mich lassen diese Zeilen nachdenken, aber sie ändern nichts, vielleicht kommen sie auch zu spät. Die Entscheidung ist gefallen und ich finde nicht die Kraft, einen grossen Schnitt zu machen.

Einige Jahre nach meiner Promotion werde ich Erfolg mit meiner Skischule haben, die nicht nur in Göttingen und im Harz, sondern auch in den Alpen im Kleinen Walsertal und den Dolomiten tätig wird. Es überrascht mich sehr angenehm, als ich eines Tages erfahre, dass zu den Teilnehmern in Corvara auch die Söhne Bernhard und Dietrich von Professor Dr. Beitzke gehören, die sich bei einer unserer Buchungsstellen angemeldet hatten. Und in einem späteren Gespräch gesteht Profesor Dr. Beitzke, dass er sich geirrt hätte, weil mein Platz tatsächlich draussen, in der freien Wirtschaft gewesen sei. Es ist dies die Zeit, als ich in Göttingen mit meinem Immobiliengeschäft und mit meinem ersten Hotel 'Bojana' Erfolg habe - und Professor Dr. Rink in seinen Vorlesungen meinen Namen als Beispiel für das vielseitige Betätigungsfeld und die erfolgreiche Karriere zitiert, die die juristische Ausbildung ermöglicht. Aber hatte sich Professor Dr. Beitzke tatsächlich geirrt? War nicht ich derjenige, der sich geirrt hatte?
      Immer wieder, jahrelang, werde ich später trotz meiner Erfolge als Kaufmann wehmütig daran denken, dass es damals doch möglich und so leicht gewesen wäre, in meinem geliebten Beruf als Rechtsanwalt tätig zu bleiben.

Professor Dr. Beitzke verkauft nach dem Ableben seiner Frau sein für ihn zu gross gewordenes Haus in Bad Godesberg und lebt heute, im Jahr 2000, in Bornheim bei Bonn in einem Seniorenheim. Er ist 91 Jahre alt. Seine Söhne - meine Skischüler von damals - haben beruflich Erfolg und sind oft mit ihm zusammen. Wir schreiben uns gelegentlich, meistens zu Weihnachten. Er beschwert sich dann, dass er die Ausgabe seines Lehrbuches 'Familienrecht' mit der 24. Auflage abgegeben hat und wissenschaftlich wenig aktiv sei - in einem Schreiben vom Januar 1998 klagt er, dass er in den letzten zwei Jahren nichts publiziert habe und sich überflüssig fühle. Einer der grossen Lehrer von Generationen von Juristen will im Alter von 89 Jahren immer noch nicht ruhen!
 
Ihm begegnet und einer seiner Schüler gewesen zu sein, war ein Privileg und wird mir eine Ehre bleiben, für die ich dem Schicksal sehr dankbar bin.



Borislav Tschiporikov ist heute Eigentümer und Leiter des

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eMail © B. Tschiporikov · Seite erstellt am: 27.12.2000, letzte Änderung 10:50 28.4.2004, Mittwoch